Krise und Chancen des Einkaufszentrums
Als Vermittler für Immobilienkredite haben wir täglich mit Architektur zu tun, ohne sie als solche wahrzunehmen. Um Ihnen die bestmöglichen Finanzierungen bieten zu können, denken wir täglich über Nutzflächen, Nettokaltmieten und Altlasten nach. Dabei verlieren wir die gesellschaftlichen und ästhetischen Aspekte des Bauens leicht aus den Augen. In dieser Kolumne wollen wir einen anderen Blick auf unsere Arbeit werfen.
Um die traditionellen Einkaufsarchitekturen ist es schlecht bestellt. Nach dem jahrelangen Sterben der Warenhäuser befinden sich spätestens seit Corona auch die Einkaufszentren in der Krise. Häufig wird dafür der zunehmende Online-Handel verantwortlich gemacht. Dabei wird übersehen, dass dieser Entwicklung ein tiefgreifender Wandel des Einkaufsverhaltens vorausgeht. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt diesen wie folgt:
„Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“
In Berlin-Treptow steht das Park Center seit Corona weitgehend leer. Um es zu retten, soll es in Teilen abgerissen und zu einem Stadtteiltreff mit Räumen für ein Kieztheater umgebaut werden. Die Verkaufsfläche wird dabei von 20.300 m² auf 8.500 m² reduziert.
Das Warenhaus und das Einkaufszentrum sind Produkte der industriellen Moderne. Beide Gebäudetypen entstanden als Verkaufsstätten für standardisierte Massengüter, die heute eine immer geringere Rolle spielen. Mehr als um den praktischen Nutzen oder die Qualität eines Produktes geht es zeitgenössischen Käufer:innen um deren besondere Eigenschaften.
Einkaufsarchitekturen der Gegenwart müssen ihre Produkte daher in einem narrativen Kontext einbetten. Dabei geht es laut Reckwitz darum, mittels „Erzählungen über historische oder lokale Herkünfte, über ausgefeilte Herstellungstechniken, prominente Nutzer und nicht zuletzt den Verweisungszusammenhang mit anderen Artefakten und Stilen“ singuläre Güter zu produzieren.
Dies verdeutlicht Reckwitz am Beispiel des Eames Plastic Chair: „So wird beispielsweise aus dem banalen Plastikstuhl erst durch die Situierung in die Biografie und das Gestaltungskonzept von Charles und Ray Eames sowie in die Geschichte des modernistischen Designs der Nachkriegszeit, ja in die Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten insgesamt jener legendäre Eames Plastic Chair, dessen charakteristische Silhouette seit der Jahrtausendwende in großer Zahl die offenen Küchen der globalen Akademikerklasse zwischen Seattle, Amsterdam und Melbourne ziert.“
Eames Plastic Chair in der Küche der DIMA
Einkaufsarchitekturen der Gegenwart müssen daher Flächen bereitstellen, die als hybride Event- oder Präsentationsräume den singulären Wert einer Ware und des Verkaufsortes selbst vermitteln können. Wie dies funktionieren kann, lässt sich am Beispiel des neu eröffneten Einkaufszentrums The Playce am Potsdamer Platz studieren.
The Playce ist kein klassisches Einkaufszentrum. Stattdessen finden sich zumindest in den oberirdischen Geschossen Geschäfte mit Verkaufsflächen von jeweils über 1000 m². Ins Auge fallen ein riesiger NBA-Store und eine Arkade-Spielhalle wie aus einem Hollywood-Film der 80er Jahre.
Zwischen NBA-Store und Food-Court trat vor wenigen Tagen der österreichische Rapper Money Boy auf. Als Sitzgelegenheit für die Zuschauer:innen steht eine überbreite Freitreppe zur Verfügung, die als multifunktionaler Begegnungsort angelegt ist.
Was wie eine willkürliche Werbeaktion aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als gut geplante Inszenierung. Es ist kein Zufall, dass der ehemalige Basketballspieler von Vienna 87 im Dress der Atlanta Hawks auftritt. Durch die Reckwitzsche Theorie-Brille lässt sich der Rapper als Vermittlungsinstanz lesen, der seine Fans zum einen an den Verkaufsort lockt und diesem die Glaubwürdigkeit eines Szene-Orts verleiht.
Zum anderen trägt er die Produkte des NBA-Stores aus dem Laden heraus und stattet sie als lebende Schaufensterpuppe mit Bedeutung aus. Nach dem Konzert - so vielleicht die Hoffnung der Veranstalter - können die Fans die Kleidung ihres „Idols“ im Geschäft gegenüber erwerben.
Die Veranstaltung hat auch gezeigt, dass öffentliche Orte wie Einkaufszentren eine wichtige gesellschaftliche Funktion haben. Sie bringen Menschen zusammen, die sich in Zeiten sozialer Fragmentierung, in denen jeder in seiner eigenen sozioökonomischen Blase gefangen ist, nur selten begegnen würden.
Die öffentliche Form des Einkaufszentrums, das allein schon aufgrund seiner Größe verschiedene Zielgruppen ansprechen muss, legitimiert den Gangsta-Rapper und erlaubt es Oma und Opa, die zum Eisessen ins Caffè e Gelato gekommen sind, stehen zu bleiben und dem Treiben interessiert zuzusehen.
Alle Zitate: Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017.

Autor
Sebastian Freiseis
studierte Germanistik, Philosophie sowie Literatur- und Kulturtheorie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der University of Nebraska-Lincoln.