DIMA liest… „Die Architektin“ von Till Raether

 

Auf dem knapp 120 m hohen Steglitzer Kreisel im Berliner Südwesten scheint ein Fluch zu lasten, denn in den 55 Jahren seit Baubeginn 1969 konnte der Turm nur 27 Jahre lang genutzt werden. Die übrige Zeit fristete er ein düsteres Ruinendasein. Nach dem Auszug des Berliner Senats im Jahr 2007 sollte der asbestverseuchte Bürokoloss als luxuriöses Wohnhochhaus wiederbelebt werden. Doch das Projekt kam schon vor Jahren ins Stocken. Seitdem dient das ausgehöhlte Gerippe allenfalls als Symbol für die Krise der Bauwirtschaft – zum zweiten Mal wohlgemerkt. Denn auch Mitte der Siebzigerjahre hatte eine Kostenexplosion einen symbolträchtigen Baustopp erzwungen.

Vielleicht war es diese merkwürdige Wiederholung der Geschichte, die Till Raether zu seinem Roman Die Architektin (2023) inspirierte, der von „Deutschlands teuerste[r] Abschreibungsruine“ (DER SPIEGEL 25/1977) erzählt. Raethers Protagonist Otto Bretz hat gerade das Abitur bestanden und absolviert ein Praktikum beim Spandauer Volksblatt. Seinen ersten Artikel soll er über eine Sumpfhexe schreiben, die ein Arbeiter auf der Baustelle des Steglitzer Kegels – so der Name des Kreisels im Buch – gesehen haben will. Eine richtige Praktikantenaufgabe, könnte man meinen. Doch dank des Sommerlochs interessiert sich bald die halbe Stadt für Ottos Geschichte, was der titelgebenden Architektin gar nicht passt. Angesichts der waghalsigen Finanzierung ihres Kegels kann sie zusätzliche Aufmerksamkeit nicht gebrauchen.

Inspiriert wurde die im Roman namenlos bleibende Architektin zweifellos von der schillernden Kreisel-Erbauerin Sigrid Kressmann-Zschach, die in den Sechzigern und Siebzigern die Berliner Baubranche aufmischte. Im Frühjahr 1966 bekam sie Wind davon, dass der Senat vis-à-vis vom Rathaus Steglitz einen U-Bahnknotenpunkt plante, an dem sich die U9 nach Wedding mit der bis heute nicht realisierten U10 kreuzen sollte. Ohne viel Aufhebens kaufte sie die Grundstücke und stellte damit sicher, dass alles, was der Senat an dieser Stelle bauen wollte, unter ihrer Mitwirkung geschehen musste.

Außerdem sicherte sie sich durch dieses Manöver 42 Mio. DM an öffentlichen Zuschüssen für den Bau der U-Bahnhöfe im Untergeschoss des Turms. Weitere 40 Mio. DM der auf 180 Mio. DM veranschlagten Baukosten steuerte die Berliner Industriebank AG aus Berlin-Hilfe-Mitteln bei. Den Rest sollten private Kommanditisten aufbringen, angelockt durch Steuervergünstigungen nach dem Berlinförderungsgesetz. Über die Auswüchse, die diese Subventionen in den Siebzigerjahren annahmen, berichtete DER SPIEGEL mit einiger Empörung: Wer sich mit 120 000 DM an einem Projekt wie dem Steglitzer Kreisel in West-Berlin beteiligte, „der konnte mit einer ‚Verlustzuweisung‘ seine Steuerschuld um über 200 000 Mark kürzen. Das hieß: 80 000 Mark glatt auf die Hand und die Beteiligung [am jeweiligen Investitionsobjekt] als Geschenk des Finanzamtes.“ (DER SPIEGEL 22/1973)

Mit diesen enormen Steuergeschenken sollten die Nachteile der Insellage West-Berlins ausgeglichen werden. Zwar floss auf diese Weise tatsächlich viel Kapital in die Stadt, doch führten die Subventionen zu einer erheblichen Marktverzerrung mit der Folge, dass viele der fertiggestellten Bürogebäude zunächst leer standen. Im Fall des Steglitzer Kreisels ließen sich die Kommanditisten nicht davon irritieren, dass Kressmann-Zschach bei Baubeginn nur für 10 der 30 Turmgeschosse einen Mieter (den Berliner Senat) vorweisen konnte. Für die riesigen Flächen im Sockelgeschoss gab es zu diesem Zeitpunkt mit Ausnahme einer Apotheke überhaupt keine Interessenten.

Dies fiel erst auf, als die Kosten im September 1973 auf 323,7 Mio. DM gestiegen waren und die Fertigstellung des Kreisels immer noch nicht in Sicht war. Frisches Geld kam von der Deutschen Bau- und Bodenbank AG, die sich dafür aber vorrangig im Grundbuch eintragen ließ. Außerdem verlangte sie vom Senat die Anmietung weiterer zehn Etagen im Kreisel. Damit war die West-Berliner Regierung doppelt gefordert. Nicht nur, dass sie für die zusätzlichen Etagen eine Quadratmetermiete von 10,50 DM statt 6,40 DM zahlen musste. Sie bürgte außerdem für das Darlehen der Berliner Industriebank, die nun nachrangig im Grundbuch eingetragen war.

Zu diesem Zeitpunkt kalkulierte Kressmann-Zschach mit jährlichen Mieteinnahmen von 14,9 Mio. DM. Eine Wirtschaftlichkeitsberechnung ergab jedoch, dass bis 1978 jährlich bestenfalls mit 6,24 Mio. DM zu rechnen war. Dass die Architektin angesichts dieser Diskrepanz ihr Projekt überhaupt weiterverfolgen konnte, verdankte sie wohl auch ihren guten Beziehungen zu Klaus Arlt, dem Präsidenten der Oberfinanzdirektion Berlin. Er verschaffte ihr nicht nur die Senatsbürgschaft für den Kredit der Berliner Industriebank, sondern begleitete sie auch auf ausgedehnten Dienstreisen. Ob sie sich dabei ein Doppelbett teilten, beschäftigte später einen Untersuchungsausschuss. Doch auch ohne diese privaten Verstrickungen dürfte der Senat kein Interesse daran gehabt haben, sein Prestigeprojekt so einfach aufzugeben. Zu sehr brauchte West-Berlin „Zugnummern wie den ‚Kreisel‘[,] seit der Ostteil der Stadt immer lauter die Touristik-Trommel rührt.“ (DER SPIEGEL 41/1973)

Wie kommt man aus so einer verzwickten Geschichte wieder heraus? Im Roman lädt die Architektin ihre Kommanditisten zu einer letzten großen Geldeintreibungsfeier nach Sylt ein. Bevor die Veranstaltung jedoch so richtig in Fahrt kommen kann, bricht eine Sturmflut über die Insel herein und schon bald schwimmen die akribisch dekorierten Aspikfische in der Nordsee. Fast scheint es, als würde der West-Berliner Subventionssumpf von der Naturgewalt reingewaschen.

 

Ein solch kathartisches Ende findet Kressmann-Zschach in der Realität nicht. Nachdem sie ihren Kreisel aufgeben musste, widmete sie sich ganz ihrem nächsten Projekt, dem Ku’damm Karree. Ähnlich dimensioniert wie der Kreisel, sollte es so unterschiedliche Nutzungen wie einen Vergnügungstempel und einen Atomschutzbunker unter einem Dach vereinen. Doch nur ein Jahr später ereilte das Karree das gleiche Schicksal wie seinen Vorgänger in Steglitz. Heute steht es ebenfalls entkernt und ohne Fassade am Kürfürstendamm und hofft auf bessere Zeiten. Gebaut wird hier bereits seit über einem Jahr nicht mehr.

Aber vielleicht wendet sich das Blatt zumindest für den Kreisel gerade. Unlängst war in ruhigen Momenten, wenn die Autos nicht wie üblich um das Hochhaus kurvten, tief aus seinem Inneren wieder Baulärm zu vernehmen.

von Sebastian Freiseis

Quellen:

Till Raether: Die Architektin. München 2023.

Berlin-Förderung. So exzessiv und schamlos. (1973, 15. Mai). Der Spiegel, 22.

Die öffentliche Hand um Sigis Taille. (1973, 7. Oktober). Der Spiegel, 41.

Hotel im Steglitzer Kreisel? (1977, 12. Juni). Der Spiegel, 25.