Haben die gestiegenen Baukosten einen Einfluss auf die Architektur? 


Als Vermittler für Immobilienkredite haben wir täglich mit Architektur zu tun, ohne sie als solche wahrzunehmen. Um Ihnen die bestmöglichen Finanzierungen bieten zu können, denken wir täglich über Nutzflächen, Nettokaltmieten und Altlasten nach. Dabei verlieren wir die gesellschaftlichen und ästhetischen Aspekte des Bauens leicht aus den Augen. In dieser Kolumne wollen wir einen anderen Blick auf unsere Arbeit werfen.

In den zurückliegenden Jahren waren Gewinne im Wohnungsneubau vor allem auf möglichst großen, leergeräumten Parzellen zu erzielen, wo durch die Ausnutzung planerischer Skaleneffekte eine relativ uniforme Architektur entstanden ist. Bevor man sich lange mit dem Bestand auseinandersetzte, den Zustand der Substanz analysierte und die Möglichkeiten einer Umnutzung oder Erweiterung untersuchte, riss man das Gebäude lieber ab und realisierte einen Neubau nach bewährtem Schema.  



Für dieses 2020 fertiggestellte Gebäude am Berliner Hochmeisterplatz vom Architekturbüro Hilmer Sattler wurde beispielsweise die neusachliche Postvermittlungsstelle (Willy Hoffmann, 1933) abgerissen, obwohl dessen freie Grundrisse leicht an eine andere Nutzung anzupassen gewesen wären. 

In Anbetracht der gestiegenen Baukosten und des Fachkräftemangels stellt sich die Frage, ob sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird. So könnte es sich zukünftig in immer mehr Fällen rechnen, einen planerischen Mehraufwand in Kauf zu nehmen, um beispielsweise eine Büroimmobilie aus der Nachkriegszeit zu erhalten, zu erweitern bzw. umzunutzen.


Ein Blick in die 70er-Jahre zeigt, dass die als Konsequenz der ersten Ölkrise rasant gestiegenen Baukosten ein Umdenken in der westdeutschen Stadtentwicklungspolitik bewirkten. Bis dahin war es im Zuge von Modernisierungsprozessen üblich, ganze Straßenzüge restlos abzureißen und durch großmaßstäbliche Wohnmaschinen zu ersetzen (Flächensanierung).


Für den Bau der Neuköllner Rollbergsiedlung – ein avanciertes Projekt des sozialen Wohnungsbaus – wurden in den frühen 70ern 5600 Altbauwohnung abgerissen, obwohl sie den Zweiten Weltkrieg überwiegend unversehrt überstanden hatten. 

Aufgrund der gestiegenen Baukosten war es nicht mehr rentabel, intakte Gebäude abzureißen und sie durch materialintensive Neubauten zu ersetzen. Dadurch erzwangen die Materialpreise eine Neubewertung des architektonischen Bestands.


Plötzlich galten Altbauten nicht länger als ein zu überwindender Ausdruck vormoderner Stadtplanung, sondern waren als reiches Geflecht verschiedenster Epochen per se erhaltenswert. Fortan hatten sich Neubauten nach dem Leitbild der behutsamen Stadtreparatur zwischen den historischen Fragmenten einzufügen.


In die enge Lücke zwischen dem Altbau (links) von 1915 und dem Zeilenbau aus den 1960ern (rechts) wurde in den 80ern ein Wohnturm eingefügt. Unlängst wurde der Gebäudeteil aus der Nachkriegszeit um zwei Geschosse aufgestockt. 

Aktuell müssen immer mehr Büro- und Wohngebäude aus der Nachkriegszeit neuen Planungen weichen. Doch ist es vor dem Hintergrund der gestiegenen Baukosten fraglich, ob sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Zumindest wäre es denkbar, dass eine Neubewertung des architektonischen Bestands ähnlich wie in den 70ern demnächst unausweichlich wird. Diese Entwicklung hätte nicht nur einen großen Einfluss auf die Architektur. Vielmehr wirkt die Einsparung grauer Emissionen auch der Erderwärmung entgegen.


 Im Zentrum von Neukölln konvertieren Max Dudler und Aukett + Heese Architekten ein ehemaliges Quelle-Kaufhaus samt Hochgarage in ein Kreativzentrum mit Büros, Co-Working-Einheiten, Einzelhandel, Gastronomie und Dachgarten. 

Autor

​​​​​​​Sebastian Freiseis

studierte Germanistik, Philosophie sowie Literatur- und Kulturtheorie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der University of Nebraska-Lincoln. 


www.promarch.org/

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