Architektur der Versöhnung
Seitdem auf der Spreeinsel das Humboldt-Forum eröffnet hat, beansprucht ein weiteres Gebäude Berlins, das Zentrum der Stadt zu markieren. Doch die Gunst der Berliner*innen ist nicht leicht zu gewinnen. Zu gut erinnern sie sich daran, dass ihnen der Potsdamer Platz einst ein ähnliches Versprechen machte… und wie er es brach. Drum beäugt die Stadt die monumentale Collage aus barockem Hohenzollernschloss und spartanischer Lochfassade mit Skepsis.
Auch scheint das Humboldt-Forum die Öffentlichkeit nicht zu einen, sondern zu spalten. Erst stritt man über den Abriss des Palasts der Republik, dann über die (rückschrittliche vs. einheitsstiftende) Symbolwirkung des rekonstruierten Preußendekors. Schließlich ging man dazu über, dessen Inventar sukzessiv als Raubkunst auszuweisen. Es ist einigermaßen ironisch, dass der Bau die Stadt nicht nur diskursiv zerreißt, sondern auch visuell. So fügen sich (vermeintlich) Alt und Neu an ihm so galant ineinander wie eine Zugkollision. Der ruinöse Charakter, welcher dem Gebäude dadurch anhaftet, taugt allenfalls als unfreiwilliges Symbol für die zunehmende Gespaltenheit der Gesellschaft.
Haben wir es also versäumt, den historischen Meisterwerken von Schinkel, Stüler und Messel auf der Spreeinsel eine Architektur zur Seite zu stellen, die ein versöhnliches Bild unserer Gegenwart zeichnet? Nein, ein ebensolcher Bau wurde mit der James-Simon-Galerie vor bald drei Jahren eröffnet. Auf einem der komplexesten Bauplätze der Stadt setzt das zentrale Empfangsgebäude der Museumsinsel nicht nur eigene Akzente, ohne dabei die Wirkung seiner prominenten Nachbarn zu beeinträchtigen. Auch scheinen sich in seiner Form viele Konflikte aufzuheben, welche Diskussionen über den Städtebau in Deutschland sonst hartnäckig beherrschen.
Die James-Simon-Galerie entstammt dem Büro von David Chipperfield, der sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten als ein unbestechlicher Seismograf deutscher Befindlichkeiten beweisen konnte. Dadurch gelang es ihm mehrfach, die schizophrenen Sehnsüchte nach einer restaurativen und gleichzeitig weltgewandten Architektur zu stillen. Den Anfang machte das 2006 fertiggestellte Literaturmuseum der Moderne in Marbach, eine am Hang gelegene Reminiszenz an die Athener Akropolis. Es ist die konsequenteste Übersetzung eines griechischen Tempels in die Gegenwart und trotzdem ein durch und durch modernes Gebäude.
Wie der Marbacher Entwurf basiert auch die James-Simon-Galerie auf einer Neuinterpretation der Säule. Diese schließt bei Chipperfield bündig mit der Fassade ab, als sei sie aus der Wand herausgeschält. Sie erlaubt es, Stülers Säulengang weiterzuführen und in dem gänzlich modern konfigurierten Neubau aufzulösen. Dazu trägt auch die Materialität des Gebäudes bei, das aus sandgestrahlten Betonfertigteilen zusammengesetzt ist. Das Verfahren verleiht dem zeitgenössischen Baustoff eine natursteinähnliche und damit traditionelle Haptik. Zusammen erzeugen diese Stilmittel ein komplexes Vexierbild, in dem sowohl konservative als auch progressive Begehrlichkeiten ausgesöhnt werden. Drum stellt die James-Simon-Galerie eines der wenigen versöhnlichen Werke der jüngeren deutschen Architekturgeschichte dar. Sie und nicht das aktuell heiß diskutierte Humboldt-Forum ist der nachhaltige Beitrag der Gegenwart zum historischen Ensemble auf der Spreeinsel.
Autor
Sebastian Freiseis
studierte Germanistik, Philosophie sowie Literatur- und Kulturtheorie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der University of Nebraska-Lincoln.